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Die neuen Glasperlen
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Die neuen Glasperlen
Die neuen Glasperlen
Im Jahr 1855, also vor mehr als 160 Jahren, hielt Häuptling Seattle seine legendäre Rede ”Wir sind ein Teil der Erde” vor dem damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten Franklin Pierce. Sie ist uns bis heute erhalten geblieben und wurde mehrfach auch auf Deutsch publiziert. Als Warnung gab er den Menschen mit auf den Weg, dass sie eines Tages merken würden, dass man Geld nicht essen kann. Und der französische ökonom und Soziologe Pierre-Joseph Proudhon prägte die vielzitierte Formel ”Eigentum ist Diebstahl”, die bis heute Basis wirtschaftsethischer Debatten ist.
Die auf dem amerikanischen Kontinent eintreffenden europäischen Siedler wollten den bereits dort lebenden Stämmen ihr Land abkaufen. Sie boten Waren und möglicherweise allerlei schöne Geschenke für das Land an, auf dem die Ureinwohner lebten. Doch warum verkauften diese Menschen etwas so Wertvolles wie ihr Land an die Europäer, die sie kaum kennen konnten, für ein paar Geschenke? Waren die Ureinwohner leicht zu übertrumpfen und über den Tisch zu ziehen? Hatten ein paar Glasperlen möglicherweise zunächst doch einen hohen Wert, da diese nur selten auf dem Kontinent vorkamen und wurden sie erst später – in Relation zu anderen Gütern – nach und nach entwertet?
Proudhon sah einen anderen Grund: Die Ureinwohner konnten sich einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand das Land besitzen konnte. Man könne ja schließlich auch niemandem den Sonnenschein oder den Wind verkaufen, denn niemandem gehören diese Dinge. Es gibt sie einfach. Und mit diesem sonderbaren ”Landbesitz” kann man doch weder Handel treiben noch sonst etwas anfangen. Plötzlich kommen Fremde und bieten den vermeintlichen ”Besitzern” an, man könne doch wunderschöne Glasperlen gegen das Land tauschen. Selbstverständlich kann man die Geschenke annehmen, wenn man der Meinung ist, dass man im Austausch nichts verkaufen wird, weil es ja einfach vorhanden sei. Erst als klar wurde, was es bedeutet, das Land zu verkaufen, wurde auch offenbar, was es bedeutet, diesen Handel einzugehen. Man durfte auf dem Gebiet nicht mehr jagen oder es ohne Erlaubnis durchqueren. Erst die Konsequenzen machten klar, was es heißt ”Land zu besitzen”.
Heute ist uns klar, dass man Land besitzen kann. Ein Katasteramt beschäftigt sich mit der Vermessung, dem Erstellen und Publizieren von Karten und es gibt Richtlinien für die eigentliche Vermessung vor. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer machten uns in der Dialektik der Aufklärung darauf aufmerksam, dass alles zur Ware werden kann, selbst die Freiheit. Es scheint wie eine zweite Warnung aus der Vergangenheit. In der heutigen Zeit kann man so Vieles besitzen: seltene Erden, Kaufoptionen auf seltene Erden, ohne diese jemals selbst gesehen zu haben, Wälder, Tiere, einen schnellen Weg zur Arbeit, öffentliche Plätze, Tonnen an CO2 in der Luft oder eine Leihmutter auf Zeit. Es scheint, als wäre fast nichts mehr davon ausgeschlossen, zum Besitz werden zu können. Denken wir an Agenturen und Unternehmen, die ”Erlebnisse” verkaufen. Es scheint nur noch ein technologischer Schritt zu sein, bis man uns auch Erinnerungen oder reine Gedanken verkaufen und einpflanzen kann. Wird man sich irgendwann die Erinnerung an einen dreiwöchigen Urlaub in den Kopf einsetzen lassen können und würde man dafür auch bezahlen? Wem gehört dann diese Erinnerung? Für Vieles haben wir noch keine Kategorie entwickelt und wissen oft nicht, was etwas wert sein kann.
Unsere eigenen Daten haben aber bereits einen enorm hohen Wert. Wo befinde ich mich montagmorgens? Wahrscheinlich an meiner Arbeitsstätte. Wo bin ich abends und am Wochenende? Wahrscheinlich meist zu Hause. Meine Bewegungsdaten haben einen viel höheren Wert als mir im ersten Moment klar ist. Wohne ich in einer Gegend, in der eher konservative Parteien gewählt werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich das auch mache. Meine Bewegungsdaten zeigen auch, ob und wann ich krank werde. Ich bewege mich zu wenig. Meine Smartwatch weiß das schon lange vor mir. Und wenn schon meine reinen Bewegungsdaten etwas darüber aussagen, wo ich wohne, was ich wähle oder ob ich mich erkältet habe, was sagen dann erst meine Sprachdaten über mich aus? Angst vor der Digitalisierung?
Unstillbarer Datenhunger
Wir geben unsere Daten schnell für etwas her, für Payback-Punkte etwa. Sind das nicht die Glasperlen unseres Zeitalters? Uns scheint noch nicht klar zu sein, was unsere Daten und Messwerte für unser Leben und das unseres Umfeldes bedeuten können. Der unstillbare Datenhunger von großen Unternehmen ist ein erstes Indiz für dessen Wert. Wir tauschen Angaben über unser Kaufverhalten, die Anzahl unserer täglichen Schritte zur Arbeit und Daten über unser soziales Umfeld anstandslos ein gegen Treuepunkte, Sportapp-Analysen oder den Zugang zu einer ”kostenlosen” Chatplattform. Uns ist nicht klar, was wir damit hergeben, denn wir bekommen schöne Dinge dafür und fühlen uns gut dabei. Diese neuen Glasperlen werden für uns zur Verlockung der Neuzeit. Die blauen Payback-Punkte tauschen wir dann ein gegen grau-lila Sporttaschen. Unsere eigene Regierung speichert seit einiger Zeit sogar unsere ”Metadaten” auf Vorrat, dafür gibt es nicht einmal Sammelpunkte, sondern nur eine Pseudosicherheit. Die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris beweisen dies. Frankreich erhob auch da schon Daten über seine Bürger und konnte keines der schrecklichen Attentate verhindern.
Das System der Transparenz wirkt. Jeder, der nicht mitmacht, wird bestraft. Wir bezahlen mehr für Autoversicherungen, wenn wir unsere Verkehrsdaten nicht hergeben. Wir sind von Netzwerken ausgeschlossen, wenn wir moderne Kommunikationsplattformen nicht nutzen. In China geht man gerade ganz offen mit der Idee um, sogenannte ”Social Points” einzuführen, eine Art Charakterpunktzahl, die direkt alle Tätigkeiten ihrer Bürger bis ins kleinste Detail messbar machen soll. Daraus wird gar kein Geheimnis gemacht.
Was kann man also empfehlen? Verkaufen Sie Ihre Daten zu einem möglichst hohen Preis, mindestens für ein Haus oder eine Eigentumswohnung, für keinen Cent weniger! Aber dazu muss zunächst einmal ein Tausch möglich sein. Mein digitales Ich und seine Daten gegen eine Wohnung in der Toskana? Denn unsere Daten sind auch unsere Gedanken und diese entscheiden letztlich auch darüber, wen wir wählen und in einer Demokratie entscheidet das am Ende über die Mehrheiten im Parlament und die Regierung.
Es ist schwer an dieser Stelle zu pauschalisieren, aber wir wollen ein Gedankenexperiment wagen. Wenn Länder oder Kulturen in eine neue Welt aufbrechen, dann bringen diese ”sich selber” mit: die eigene Denkweise, die eigene Kultur, was man besitzen oder was man auch nur denken kann. Es fällt auf, dass amerikanische Plattformen wie Amazon sehr stark darin sind, Produkte an die Konsumenten zu bringen. ”Kunden, die diesen Artikel kauften, kauften auch ”. Man könnte dem Kontinent eine ausgeprägte Produktfixierung unterstellen, für die größte Volkswirtschaft der Welt mit einem ausgeprägten Kapitalismus ist das nicht ganz von der Hand zu weisen.
China führt für jeden Bürger ein Punktekonto ein, dessen Stand oder Veränderung ernste Konsequenzen haben könnte. Man geht bei Rot über die Straße? Punktabzug. Man spendet für einen lokalen Verein? Extrapunkte. Man besucht seine Eltern einen Monat lang nicht? Punktabzug. Man könnte in Anlehnung an Michel Foucault von einem digitalen Panoptimus sprechen. Das Panoptikum (etwa die Überwachungskamera) kontrolliert und überwacht die Menschen, die nicht wissen, ob sie beobachtet werden oder nicht. Diese Form subtiler Machtausübung zwingt die Bevölkerung dazu, sich stets korrekt zu verhalten, da niemand einen Punkteabzug riskieren will. China nimmt seine Denkweise ebenfalls in das digitale Zeitalter mit.
Und die Europäer? Man sucht schon lange vergeblich nach einem europäischen Betriebssystem und auch auf vielen anderen Gebieten sind es andere Nationen, die in der digitalen Welt führend sind. Wir scheinen uns mit europäischen Verordnungen zu behelfen. Eine dieser Verordnungen sieht vor, dass jeder Mensch das Recht hat, wieder vergessen zu werden. Uns scheint der Aufbruch in die digitale Welt schwerer zu fallen und dennoch würden auch wir unser Menschenbild in dieses Zeitalter mitnehmen. Was könnte das bedeuten? Jedes Individuum hat Rechte? Es sollte ein digitales Ich geben, welches in der digitalen Welt auch unter meiner Kontrolle steht – außer ich entscheide, meine Daten gegen etwas einzutauschen? Gibt es mich dann zweimal, einmal hier und ein weiteres Mal in der ”neuen Welt”?
Es lässt sich viel spekulieren, es scheint jedoch jetzt schon klar zu sein, dass auch eine europäische Digitalisierung anders verlaufen wird. Das hat mit dem hiesigen Menschenbild zu tun, welches wir unmittelbar mitnehmen, aber auch mit der Tatsache, dass wir uns in Europa noch finden müssen. Ein notwendiger Prozess, aber auch ein spannendes Zeitalter.